Wer sich auf die Reise in die Weiten der Sexarbeit und der Digitalisierung begibt, kommt nicht umhin, auch eine Reise in und zu sich selbst zu machen. Die ersten beiden Teile der Reihe “Sexwork und Twitter – zwischen Kondom und Smartphone” sind mittlerweile veröffentlicht, in denen mir @ButterflyAbuse und @DichJasmin Rede und Antwort standen. Drei weitere Teile sind bereits fest zugesagt und in Arbeit. Insbesondere die Teile 4 und 5 haben mich dabei in Welten entführt, die völlig außerhalb meiner eigentlichen Komfortzone liegen.

Zwischen einfach und “Oha…was hab ich mir dabei gedacht?”

Manch Interviewpartner ist “einfach“, passt problemlos in dein sonstiges “Wie funktioniert die Welt so?“-Konzept und ist daher auch sehr angenehm zu befragen und zu beschreiben. Und manch Interviewpartner bricht diese Ketten auf und stellt dich und deine Konzepte auf den Prüfstand. Dabei begibst du dich dann unweigerlich auf eine Reise, auf der du nicht nur unendlich viel über andere Lebenskonzepte erfährst, sondern auch ganz viel über dich selbst. Das ist auf so vielen Ebenen interessant und weckt eine Myriade an Emotionen: das kann erfrischend, erschreckend, ernüchternd, begeisternd, geraderückend, auf den Boden der Realität zurückholend und noch so unendlich Vieles mehr sein. Es ist eine spannende, aber auch anstrengende Erfahrung. Du kannst dich für noch so offen und tolerant halten, aber wenn du dich so konzentriert und explizit stetig mit anderen Lebenskonzepten konfrontierst und dich dabei aktiv und unablässig selbst prüfst und hinterfragst, dann macht das was mit dir. Vor Allem, wenn du dich dabei aus deiner Komfortzone heraustraust.

Stilblüten und FAQ

Neben der Selbstbetrachtung bringt eine solche Interviewserie auch eine Reihe von Fragen und Reaktionen, die sich an ein solches Interview anschließen. Spannenderweise trauen sich die meisten nicht, diese Fragen als Kommentar unter dem Artikel oder dem Tweet zu hinterlassen: 99% der Fragen kamen per Privatnachricht.

Dabei rangiert die Art der Reaktion von albern über interessiert bis zu beleidigend. Und einige Wenige fragen dann tatsächlich auch sehr ernsthaft und interessiert nach, wie ein solches Interview denn abläuft; man könne sich das nur schwer vorstellen. Ein paar der Stilblüten möchte ich an der Stelle nochmal (ich habe das nach beiden Interviews auf Twitter bereits hier und hier getan) veröffentlichen und auch die Frage, wie das abläuft noch einmal kurz beantworten.

Der Bra

Der Bra ist mittlerweile bereits ein running gag. Ich gehe davon aus, dass er nach jedem Interview eine Frage schicken wird und ich auch davon, dass das jedes Mal dieselbe Frage sein wird.

Nach dem ersten Interview schickte mir der Bra folgende “Frage“:

Bra, gönnma. Wie gerissen?

Ich muss zugeben: den musste ich mehrfach lesen. Ich bin mir bis heute nicht ganz sicher, was der Bra da wissen wollte. Ich gehe davon aus, dass er gerne wissen würde, wie ich an das Interview mit der reizenden @ButterflyAbuse gekommen bin. Die Antwort darauf ist übrigens ziemlich simpel: ich habe nett gefragt.

Was sagt denn deine Frau dazu?

Ein weiterer, ulkiger Zeitgenosse wollte wissen:

Was sagt denn deine Frau dazu, dass du mit Huren redest?

Ich bin mir nicht ganz sicher, ob der Kollege nun pro oder contra Sexwork war und wie er generell so zu Frauen steht. Hure als Bezeichnung kann ja doch eher vielschichtig sein: als Beleidigung, Hohn und Spott und Ausdruck von Missgunst, aber auch als stolzes Annehmen und “Ownen” der Bezeichnung, wie es Kathy ja unter Anderem gerne tut.

Egal, wie der Kollege das nun meint, die Antwort bleibt dieselbe: meine Frau wusste von Anfang an von meinem Vorhaben, diese Interviewreihe zu machen. Nachdem sie das erste Interview gelesen hatte, durfte ich mir dann einen knapp halbstündigen Vortrag darüber anhören, wie cool und stark Kathy ist. Und, dass sie Kathy für ein gutes Beispiel für “echten, vernünftigen Feminismus” hält und das sehr viel besser findet, als sämtliche SJW und co. zusammen, die sie für eher schädlich hält.

Wer Sexworker interviewed, rammelt sich durchs Internet

Was mich, zum Teil, dann doch überrascht hat, war, wie viele der Leser offenbar der Ansicht waren, dass man Sexworker und Sexworkerinnen nicht interviewen kann, ohne, dass danach ein drittklassiger Porno nachgespielt wird.

Stellvertretend für tatsächlich 43 anderer, ähnlichlautender Fragen nach beiden bisher veröffentlichten Interviews:

Gabs denn auch was Nettes zu sehen oder anfassen für Dich? Weißt schon…

Ich habe Interviews geführt. Noch dazu online, nicht vor Ort. Und selbst wenn: es ging um Interviews. In der Realität – das ist das, was passiert, während Ihr gerade nicht Besetzungscouchporn schaut – ist es tatsächlich gar nicht so, dass man dann am Ende den Interviewpartner vögelt.

Warum gibt man solchen eine Bühne…?

Stigmata sind etwas Tolles. Man kriegt sie auch letztlich nicht aus der Welt geschafft, habe ich den Eindruck. Huren, das sind “solche” und “so eine” und grundsätzlich etwas, worüber man nicht redet, was es nicht geben darf und überhaupt. Tatsächlich kam auch diese Frage mehrfach. Stellvertretend:

Warum geben Sie so einer eine Bühne? Das ist doch ekelhaft. So etwas Abnormales müssen Sie doch nicht auch noch verbreiten?

Nein. Das ist weder ekelhaft, noch abnormal. Bereits im Einleitungstext der Beiträge in dieser Interviewreihe beschreibe ich, wie lange es Prostitution bereits gibt und wer sich die Zeit und Mühe mal machen möchte, das zu recherchieren, wird schnell feststellen: in so gut wie jedem, dokumentierten Zeitalter menschlicher Geschichte gab es Prostitution. Sie ist geradezu nicht wegzudenken. Und gerade weil ich meine Interviewpartner als starke, interessante und tolle Menschen kennengelernt habe, gebe ich ihnen meine kleine, bescheidene Bühne.

Wie läuft das ab? Ich kann mir das gar nicht vorstellen…

Eine der doch eher seriöseren, sachlicheren Fragen, die doch recht häufig gestellt wird, ist die nach dem Ablauf. Ich möchte diese tatsächlich ganz gerne auch mal beantworten, denn weder ist das Raketenwissenschaft, noch ein großes Geheimnis.

Am Anfang steht immer ein Anschreiben des Interviewpartners. In diesem beschreibe ich ganz kurz, wer ich bin, was ich so mache und was der ganze Unsinn hier soll. Seit die ersten Interviews veröffentlicht sind, enthält das Anschreiben auch Links zu den veröffentlichten Interviews, damit man sich direkt ein Bild vom Endprodukt machen kann.

Wenn dann der Interviewpartner zusagt, schicke ich eine weitere Mail mit 2 Dateien: einer .txt Datei mit den Fragen, die sie mir ausgefüllt zurückschicken können und eine .pdf Datei mit einer Preview. Die Preview sieht im Grunde aus wie der fertige Artikel: sie enthält die Einleitung, den Flavourtext ( = Einleitung zum Interviewpartner, Bild und Links zu deren Profilen) und die Fragen. Den abschließenden Text unter dem Interview schreibe ich immer erst nach Lektüre des Interviews.

Nachdem ich die Antworten erhalten habe, baue ich diese in den Artikel ein und schicke den Interviewpartnern eine finale Preview. Das ist im Grunde dieselbe Datei, wie zuvor, nur, dass nun eben auch die Antworten und der abschließende Text dabei sind. Wenn die Interviewpartner mit dem Ergebnis zufrieden sind, plane ich die Veröffentlichung des Interviews. Wenn sie Änderungswünsche haben, werden diese eingearbeitet und sie bekommen noch eine Preview. Die Interviewpartner haben selbstverständlich zu jedem Zeitpunkt immer die volle Kontrolle über den Content, der über sie veröffentlicht wird.

Das ist tatsächlich echte Arbeit

Zum Abschluß möchte ich noch eine Frage beantworten, die ich nicht erwartet hatte, aber irgendwie auch logisch ist. Sie wurde tatsächlich auch 3 oder 4 Mal gestellt:

Wie lange braucht eigentlich so ein Interview, bis es dann live geht?

Das hängt von mehreren Faktoren ab. Zum Einen natürlich von der Kommunikation zwischen mir und den Interviewpartnern. Diese Interviews sind ja weder für sie noch für mich der einzige Lebensinhalt: die haben auch Anderes zu tun, als mir stets zur Verfügung zu stehen und ich mach das ja immerhin privat, nach oder neben der Arbeit.

Zum Anderen ist jeder Interviewpartner unterschiedlich “aufwendig“. Während zum Beispiel die Recherche bei den ersten 3 Interviewpartnern relativ einfach für mich war, stellte insbesondere der 5. Interviewpartner mich vor eine Herausforderung. Für die Recherche gehen, je nach Interviewpartner, demnach zwischen etwa 2 und 5 Stunden ins Land. Dann schreibe ich einen Einleitungstext und denke mir Fragen aus. Auch hierfür brauche ich nochmal 2-3 Stunden. Für Lektüre des Interviews, Schreiben des Ausleitungstexts und Vorbereitung der Sharepics und Tweets zum Artikel sind es dann nochmal 1-2 Stunden. Ein solcher Artikel kann also schon mal gut 8 Stunden oder mehr in Anspruch nehmen. In der Regel dann über 4-5 Tage verteilt.

Von badidol

badidol wurde 1981 geboren. Er arbeitet seit fast 20 Jahren im und am Internet als Community Manager (fast 15 Jahre beim selben Arbeitgeber), Social Media Manager, Moderator und verkauft dabei Eskimos Kühlschränke. Er spricht fließend Sarkastisch. In der Jugend linke Socke, als junger Erwachsener eher sozialliberal und mittlerweile von konventionellen Schubladen genervt. Atheist, Pragmatiker und Realist.

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